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Die wesentliche Vertragsverletzung im international Einheitlichen Kaufrecht. Bd. 2 — Teil 2

Verfasser | Prof. Dr. Ernst von Caemmerer

Quelle: Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart: Festschrift für Helmut Coing zum 70. Geburtstag. 1982. S. 33–52.

Jahr: 1982.

V.

Dieses Abstellen auf den hypothetischen Parteiwillen zur Konkretisierung eines unbestimmten Rechtsbegriffs ist uns heute befremdlich. Der Jurist des 20. Jahrhunderts sucht nach den richtigen Anhaltspunkten für eine objektive Interessenwertung [15]. Rabel fand bei seinen Forschungen in den dreißiger Jahren aber, daß ganz verbreitet, jedenfalls wo es um die Behandlung von Nebenpflichten oder die Beurteilung von bloßer Teilerfüllung ging, auf die Wesentlichkeit der verletzten Vertragspunkt abgestellt wurde, wobei ihm überall in der einen oder anderen Form die Wendung begegnete, die sich den Gerichten offenbar als handlich erwiesen hatte, daß zu prüfen sei, ob die Parteien den Vertrag auch ohne die jetzt verletzte Verbindlichkeit oder ohne die nicht erbrachte Teilleistung abgeschlossen hätten [16].

Die Unterscheidung zwischen wesentlicher und nichtwesentlicher Vertragsbestimmung folgte der Differenzierung zwischen condition und warranty im englischen Recht. Auf die englische Judikatur freilich konnte man sich konkret nicht stützen, da die Bindung an Einzelpräjudizien die Herausarbeittmg verallgemeinerungsfähiger Gesichtspunkte erschwerte. Beachtung aber fanden die immer wieder verwendeten Formeln. Eine Vertragsbedingung sei condition und damit wesentlich, wenn sie ein substantive part of the contract ist. Sie muß go to the whole consideration, go to the very foundation of the whole, to the root or essence of the contract. Dann ist der betroffene Partner befugt, vom Vertrage abzugehen. Dabei wird gefragt, ob die Parteien den Vertrag ohne die jetzt verletzte Vertragsbestimmung geschlossen haben würden.

Die Heranziehung des hypothetischen Parteiwillens hat, wenn ich recht sehe, eine ihrer Wurzeln in dem Gewicht, das das Naturrecht der Aufklärung auf die Anerkennung der Parteiautonomie legte. Mußte vom Satze „pacta sunt servanda“ abgewichen werden, so sollte das auf den vermutlichen Parteiwillen gestützt werden können. Das gilt zum Beispiel für die oft kritisierte, aber aus der Zeit verständliche „condition resolictoire sousentendue“ in Art. 1184 (1) C. civ. und ebenso für die Vertragsaufhebung als Folge der Verletzung von Nebenpflichten, teilweiser Nichterfüllung und mangelhafter Leistung. In der glänzend klaren Darstellung dieser Fragen von Domat [17] kommen alle Sachgesichtspunkte, die dann später bei der „appreciation souveraine du jage“ nach Art. 1184 eine Rolle spielen, bereits zur Geltung. Domat veranschaulicht sie mit einleuchtenden Beispielen:

„Erfüllt ein Verkäufer, der Waren zum Auslaufen eines Schiffes oder zum Termin einer Messe zu liefern hatte, diese Verpflichtung nicht zeitgerccht, so kann der Käufer Auflösung des Vertrages verlangen. Der Verkäufer muß dann die Ware wieder zurücknehmen und den eventuell schon erhaltenen Kaufpreis zurückzahlen. Außerdem schuldet er Schadensersatz, weil er die Lieferung nicht am geschuldeten Tag und Ort bewirkt hat. Hat jemand dagegen ein Anwesen verkauft und verzögert er die Übergabe, wodurch er den Käufer eine Zeitlang der Nutzungen beraubt, so muß der Verkäufer insoweit Schadensersatz zahlen. Aber die Verzögerung gibt dem Käufer nicht das Recht, Auflösung des Kaufvertrages zu verlangen.“

Das sind anschauliche Beispiele für das verschiedene Gewicht der vertraglich vereinbarten Leistungszeit.

Auch bei der Behandlung von Sachmängeln zieht Domat den hypothetischen Parteiwillen heran. Sie geben dem Käufer das Recht, Vertragsauflösung oder Herabsetzung des Kaufpreises zu verlangen, wenn der Käufer den Kaufvertrag bei Kenntnis des Mangels nicht oder nur zu einem geringeren Preis abgeschlossen hätte. Zu beachten sei ein etwa existierender Handelsbrauch. Im übrigen entscheide das vernünftige Ermessen des Richters. Die Verweisung auf den hypothetischen Willen des Käufers bei der Beurteilung des Gewichts von Sachmängeln ist aus den Ausführungen von Domat später unmittelbar in den Code civil übergegangen (Art. 1641).

Pothier [18] folgt den Gedankengängen und Entscheidungen von Domat weitgehend. Speziell für die teilweise Nichterfüllung oder die Nichterfüllung von Nebenabreden stellt er auf den vermutlichen Willen des Käufers ab und gewährt die Vertragsauflösung, wenn zu vermuten ist, daß der Käufer den Kaufvertrag ohne die nunmehr entfallene Leistung nicht abgeschlossen haben würde. Auch das ist unmittelbar in den Code civil in zwei Vorschriften aus dem Gebiet der Rechtsmängelhaftung übergegangen (Art. 1636, 1638). Pothier bildet dazu das folgende Beispiel:

„Wird ein Grundstück zusammen mit einer für seine Bewirtschaftung unbedingt erforderlichen auf einem Nachbargrundstück ruhenden Weidegerechtigkeit verkauft und kann der Verkäufer dem Käufer die Weidegerechtigkeit infolge von Eviktion nicht verschaffen, so kann der Käufer, der das Anwesen ohne die Weidegerechtigkeit nicht gekauft haben würde, Vertragsauflösung verlangen. War die Weidegerechtigkeit für die Bewirtschaftung des Anwesens nicht erforderlich, sondern nur zusätzlich nützlich, so kann der Käufer nur die Herabsetzung des Kaufpreises fordern.“

Im Anschluß an diese Anschauungen sind sowohl vom Kassationshof wie im Schrifttum [19] bis ins frühe 20. Jahrhundert Formeln verwendet worden, nach denen die Vertragsauflösung auszusprechen sei, wenn der betroffene Vertragspartner, hätte er die Nichterfüllung vorausgesehen, den Vertrag mit Sicherheit nicht abgeschlossen haben würde [20]. Natürlich finden sich daneben aber auch immer objektive Formulierungen, die auf die Beeinträchtigung des Vertragszwecks und das Gewicht der Vertragsverletzung abstellen.

VI.

Im November 1951 wurde das Einheitliche Kaufrecht und zwar der römische Entwurf von 1939/1951 das erste Mal auf einer internationalen Konferenz in Den Haag in einer Art erster Lesung behandelt. Für die Weiterbehandlung der wesentlichen Vertragsverletzung wie überhaupt das System der Rechtsbehelfe bei Vertragsverletzungen wurde ein Referat des Dänen Ussing von entscheidender Bedeutung. Ussing regte an, zu prüfen, ob man nicht nach dem Vorbild des anglo-amerikanischen breach of contract bei allen den verschiedenen Pflichten der Vertragsparteien im Falle von Verstößen einheitlich von Nichterfüllung des Vertrages sprechen und sie nach einheitlichen Grundgedanken ordnen können. An der in den Artt. 55 und 70 des römischen Entwurfs enthaltenen Definition rügte er die subjektive Fassung, also das Abstellen auf den hypothetischen Parteiwillen. Ein objektives Kriterium wäre vorzuziehen. Sachlich regte Ussing eine Änderung des Blickpunktes an. Man solle nicht prüfen, ob die verletzte Verpflichtung eine wesentliche Vertragsbestimmung (une condition essentielle du control) sei. Es müsse vielmehr auf die Wesentlichkeit der Vertragsverletzung abgestellt werden. Entscheidend sollte sein, ob eine contravention essentielle au contrat, a fundamental breach of contract vorliege [21]. Der Bericht der Commission Speciale, des auf dieser Haager Konferenz zur Weiterbehandlung des Kaufrechts eingesetzten Sonderausschusses, der sich den Vorschlag Ussings zu eigen machte, nannte als Beispiel eine als wesentlich anzusehende Vereinbarung über den Lieferzeitpunkt oder den Lieferort. Eine leichte Verzögerung der Lieferung oder eine Lieferung ganz in der Nahe des vorgesehenen Lieferorts könne unter Umständen so geringfügige Schäden oder Mehrkosten verursachen, daß es ungerechtfertigt sei, darauf mit dem schweren Geschütz der Vertragsaufhebung zu antworten. Es komme für die Schwere der Sanktion nicht auf die Bedeutung der eingegangenen Verbindlichkeit an, sondern auf die Schwere der Verletzung der betroffenen Partei [22]. Und Riese fügte hinzu, die Bedeutung, die einer Verpflichtung im Zeitpunkt des Kaufabschlusses beigelegt werde, könne unter Umständen zur Zeit der Leistung gar nicht mehr gegeben sein [23].

Aber es ist wohl auch nicht richtig, allein auf die Schwere der Verletzung des betroffenen Vertragspartners abzustellen. Man muß, wie Rabel schon im Anfang der dreißiger Jahre darlegte, auf beides sehen. Man bewertet die einzelne Vertragspflicht beim Vertragsschluß, kann aber nicht umhin, dabei zugleich auch die Auswirkungen des Vertragsverstoßes auf die Erreichung des Vertragszwecks und die Bedeutung des Vertragsbruchs zur Zeit seiner Begehung in die Bewertung einzubeziehen [24]. Das ermöglicht es, den Vertrag trotz der Verletzung von Verpflichtungen, die im Vertrag als wesentlich angesehen wurden, aufrecht zu erhalten, wenn der Verstoß praktisch folgenlos geblieben war. Führt aber der Verstoß gegen eine als relativ nebensächlich angesehene Vertragsbedingung wider Erwarten zu schweren Folgen, so sollte das allein kein Recht zur Vertragsaufhebung gewähren. Ein schwerer Vertragsverstoß muß also seine Wurzel zumindesten auch in der Verletzung einer als wesentlich erscheinenden Vertragsbestimmung haben [25].

Aber diese Fragen sind im Fluß. Auch im englischen Recht, wo es früher selbstverständlich war, für die Annahme einer condition auf die Wesentlichkeit der Vertragspflicht abzustellen, neigt man seit Beginn der sechziger Jahre immer mehr dazu, mit rechtstechnisch verschiedener Begründung auf die Folgen des Vertrags Verstoßes und die Schwere der Verletzung der Gläubigerinteressen abzustellen [26].

VII.

Bei der Haager Konferenz von 1964 sind die Anregungen der Vorkonferenz von 1951 weitgehend aufgegriffen worden. Die Verletzung oder Nichterfüllung von Vertragspflichten ist für die verschiedenen Verpflichtungen der Parteien zur Lieferung der Ware, zur Eigentumsverschaffung, zum Einstehen für Rechts- und Sachmängel, zur Lieferung von Dokumenten, zur Zahlung des Kaufpreises und zur Abnahme der Ware und für die verschiedenen Nebenpflichten von Verkäufer und Käufer zwar in gesonderten Einzelbestimmungen des EKG, aber doch nach einheitlichen Gesichtspunkten geordnet worden. Insbesondere gilt bei allen Pflichten der Satz, daß eine Verletzung nur dann zur Vertragsaufhebung berechtigt, wenn ein wesentlicher Vertragsbruch vorliegt. Andernfalls ist nunmehr allgemein, außer bei Nebenpflichten (Art. 55 und 70 EKG), eine Nachfristsetzung zugelassen. Der Gläubiger kann also insbesondere da, wo Zweifel über die Wesentlichkeit oder Nichtwesentlichkeit der Vertragsverletzung oder über den Erfüllungswillen des Schuldners bestehen, zur Klärung der Sachlage den Weg der Nachfristsetzung beschreiten. Dabei erspart ihm das EKG die Komplikationen der nie populär gewordenen Ablehnungsandrohung in § 326 Abs. 1 S. I des deutschen BGB.

Das EKG hat den Begriff der wesentlichen Vertragsverletzung für alle Anwendungsfälle einheitlich definiert und ihn in den allgemeinen Bestimmungen an die Spitze des Gesetzes gestellt (Art. 10 EKG) [27]. Dem Werdegang dieser Vorschrift auf der Haager Konferenz von 1964 soll kurz nachgegangen werden.

Der Konferenz lag als Beratungsunterlage der vom Sonderausschuß erarbeitete Entwurf von 1956 und 1963 vor. In ihm lautete die neugeschaffene Vorschrift für den Begriff der wesentlichen Vertragsverletzung (Art. 15) wie folgt:

„Une contravention au contrat est essentielle routes les fois que la partie a su ou aurait du savoir, lors de la conclusion du contrat, que l’autre partie n’aurait pas conclu le contrat si eile avait prevu cette contravention“.

Es wurde also nicht mehr auf den Verstoß gegen eine wesentliche Vertragsbedingung, sondern auf die Wesentlichkeit der Vertragsverletzung, auf die contravention essentielle au contrat bzw. den fundamental breach of the contract abgestellt. Insoweit folgte man der Anregung von Ussing. Wie schon gesagt, wollte man vermeiden, daß die Verletzung einer bei Vertragsschluß als wesentlich angesehenen Vertragsbedingung auch dann zu der schweren Sanktion der Vertragsaufhebung führt, wenn die Folgen des Vertragsverstoßes geringfügig geblieben sind und beispielsweise durch die Erstattung eines unbedeutenden Betrages für entstandene Mehrkosten voll und ohne die Entstehung weiterer Nachteile ausgeglichen werden können [28]. Auch kann es sein, daß ein an sich erheblicher Verstoß wie die nichtrechtzeitige Lieferung von Waren zu einem Abladetermin ganz ohne Auswirkungen bleibt, weil sich das Auslaufen des Schiffes infolge Hafenarbeiterstreiks so verzögert, daß die Ware zur Abladung noch voll zurecht kommt. Zu einer Aufhebung des Vertrages besteht in solchem Fall kein Grund, obwohl hier ein eindeutiger Fixtermin nicht eingehalten wurde.

Der weiteren Anregung Ussings, die subjektive Fassung durch eine objektive Regel zu ersetzen, ist man dagegen leider nicht gefolgt. Man blieb dabei, für die Konkretisierung des unbestimmten Rechtsbegriffs der wesentlichen Vertragsverletzung auf den hypothetischen Parteiwillen zu verweisen.

Nun mochte es im römischen Entwurf (Art. 55 (3)) angehen, wenn man für die Entscheidung, ob eine z. B. vom Verkäufer übernommene Verpflichtung vertragswesentlich war, darauf abstellte, ob der Käufer den Vertrag ohne sie nicht geschlossen haben würde. Die Beurteilung einer als möglich vorgestellten Vertragsverletzung nach dem hypothetischen Parteiwillen im Zeitpunkt des Vertragsschlusses, die Auskunft geben soll, ob der Gläubiger den Vertrag geschlossen haben würde, wenn er seine Verletzung vorausgesehen hätte, ist aber wesentlich schwieriger. Man bekommt die Antwort, eine vernünftige Partei schlösse überhaupt keinen Vertrag, wenn sie dessen Verletzung voraussehe, auch rechneten die Parteien beim Abschluß eines Vertrages mit seiner ordnungsmäßigen Durchführung und nicht mit seiner Verletzung. Die Gefahr der unzulässigen Vermengung von empirisch-psychologischen und normativen Gesichtspunkten ist also groß.

Es wäre daher sicher besser gewesen, statt auf den hypothetischen Parteiwillen abzustellen, zu sagen, daß es objektiv darauf ankomme, ob infolge der Vertragsverletzung das Interesse des Gläubigers an der Vertragserfüllung entfallen war oder nicht. Das aber war, wie Tunc in den Verhandlungen der Konferenz und später in seinem offiziösen Kommentar überzeugend darlegte, sachlich gemeint [29].

Auch der zweite in Art. 15 des Entwurfs von 1956/1963 enthaltene und in der Folge in Art. 10 EKG übergegangene Gedanke hätte sich dann klarer ausdrücken lassen. Eine Vertragsverletzung, die dazu führt, daß das Interesse des Gläubigers an der Vertragsdurchführung entfällt, berechtigt den Verletzten nur dann zur Vertragsaufhebung, wenn die Möglichkeit dieses Interessewegfalls für den Schuldner bei Vertragsschluß erkennbar war. Ein verdecktes, erst nach Vertragsschluß offenbartes oder aufgetretenes Interesse zählt nicht. Das weicht vom deutschen Recht ab. Nach § 325 Abs. 1 S. 2 und § 326 Abs. 2 BGB kommt es nicht darauf an, ob der Schuldner die Interessenlage bei dem Gläubiger kannte oder kennen mußte [30]. Für das einheitliche Kaufrecht war man sich soweit ersichtlich aber bereits im Haag 1951 einig, daß auf die Risikoverteilung nach dem Vertrage und damit auf die Beurteilung im Zeitpunkt des Vertragsschlusses abzustellen sei [31]. Risiken, die für den Schuldner in diesem Zeitpunkt nicht erkennbar waren, brauchte er nicht zu fürchten.

Zahlreiche Staaten setzten sich auf der Haager Konferenz von 1964 für die Aufgabe der subjektiven Fassung und ihre Ersetzung durch eine objektive Formel ein. Man fürchtete, daß die Richter der verschiedenen Länder die Vorschrift nicht würden handhaben können und den Begriff nach ihren eigenen subjektiven Vorstellungen und damit von Land zu Land und von Gericht zu Gericht verschieden auslegen würden. Eine objektive Formel hat sich aber nicht durchgesetzt, weil ein allgemein akzeptierter konferenzreifer Entwurf nicht vorlag. Von Interesse und auch für die Folgezeit von Bedeutung war der von der britischen Regierung gestützt auf den nicht publizierten sog. Donald-Report gemachte Vorschlag, die wesentliche Vertragsverletzung wie folgt zu definieren: [32]

„A breach of the contract shall be deemed to be fundamental, wherever the performance of the contract is by reason of the breach rendered radically different from that for which the parties contracted.“

Das war eine Formel für den fundamental breach, wie sie damals gerade im Zusammenhang mit den Versuchen, zu weitgehende Freizeichnungen einzudämmen, diskutiert wurde. Ihre Tragweite und ihre Bedeutung im Bereich der Sanktionen für Vertragsverletzungen war aber noch nicht abzusehen [33]. So mochte man sich auf diese Formulierung nicht einlassen.

Wenn im übrigen der Sonderausschuß und mit ihm die Mehrheit auf der Konferenz an der subjektiven Formel festhalten wollte, so deshalb, weil man auf diese Weise anpassungsfähiger sei, als bei einer objektiven Formel, bei der nicht vorherzusehen sei, ob man allen Bedürfnissen der Parteien würde genügen können [34].

Es kam zu einem Kompromiß, der dann mit großer Mehrheit angenommen wurde. Er bestand darin, daß die beim Schuldner an die Voraussicht der Interessenverletzung und beim Gläubiger an ihre Beurteilung zu legenden Maßstäbe „objektiviert“ und im Gesetzestext unmittelbar oder mittelbar über Art. 13 EKG niedergelegt wurden. Für den deutschen Juristen wäre solche Objektivierung bei ergänzender Auslegung auch ohne besonderen Ausspruch freilich selbstverständlich gewesen [35]. Im Grunde bringt der Art. 10 EKG also gegenüber Art. 15 des Entwurfs von 1956/1963 keine sachliche Änderung. Freilich ist die Vorschrift, bei der man jetzt Art. 10 EKG und den auf Anregung der französischen Regierung in das Gesetz aufgenommenen [36] Art. 13 EKG zusammen sehen muß, etwas kompliziert geworden. Die Vorschriften lauten nunmehr:

Art. 10

„Eine Vertragsverletzung wird im Sinne dieses Gesetzes immer dann als wesentlich angesehen, wenn die Partei, die sie begangen hat, im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses gewußt hat oder hätte wissen müssen, daß eine vernünftige Person in der Lage der anderen Partei den Vertrag nicht geschlossen hätte, wenn sie die Vertragsverletzung und ihre Folgen vorausgesehen hätte.“

Art. 13

Wird in diesem Gesetz eine Wendung wie „eine Partei hat gewußt oder hätte wissen müssen“, „eine Partei hat gekannt oder hätte kennen müssen“ oder eine ähnliche Wendung gebraucht, so bedeutet dies, daß darauf abzustellen ist, was eine vernünftige Person in der gleichen Lage hätte wissen oder kennen müssen."

Der sachliche Gehalt dieser Bestimmungen ist im Grunde einfach. Der Gläubiger ist nicht bloß auf eine Schadensersatzforderung verwiesen, sondern kann den Vertrag wegen wesentlicher Vertragsverletzung aufheben, wenn sein Interesse an der Durchführung des Vertrages infolge der Auswirkungen der Vertragsverletzung nach dem Urteil eines sich in seine Schuhe stellenden vernünftigen Beobachters entfallen ist.

Ein Recht zur Vertragsaufhebung ist dagegen auch in diesem Falle dann ausgeschlossen, wenn der Schuldner bei Vertragsschluß nach dem Urteil eines sich in seine Lage versetzenden vernünftigen Beobachters diesen Interessewegfall nicht voraussehen konnte.

Ob diese Vorschrift praktikabel ist, konnte bisher nicht erprobt werden. Die meisten Kommentatoren halten sie für unnötig verwickelt, meinen aber, daß sie sachlich in Ordnung sei. Die schärfsten Angriffe gegen die Regel des Art. 10 EKG sind von Graveson/Cohn/Graveson gekommen [17]. Diese Autoren halten Art. 10 für die am wenigsten geglückte Kompromißformel im EKG und befürworten für eine künftige Revision die von der britischen Regierung vorgeschlagene Definition des fundamental breach aus dem Donaldson-Report [38] oder auch die deutsche und die schweizerische Regelung, die darauf abstellt, ob infolge des Vertragsbruches das Interesse des Gläubigers an der Erfüllung des Vertrages entfallen ist. Eine vernünftige Anwendung des Art. 10 EKG in seiner heutigen Fassung halten Graveson/Cohn/Graveson nicht für möglich. Die Ergebnisse würden, wenn man dem Wortlaut der Vorschrift folgen wollte, von der Marktlage abhängen. Bestehe Käufermarkt, so werde kein vernünftiger Käufer den Kaufvertrag abschließen, wenn er auch nur die leiseste Vertragsverletzung voraussehe. Er könne und werde anderwärts kaufen und diese Möglichkeit sei jedem Käufer klar. Also sei bei Käufermarkt jede Vertragsverletzung wesentlich. Bei Verkäufermarkt ergebe sich das Gegenteil. Kaum eine Vertragsverletzung werde als wesentlich angesprochen werden können, weil der Käufer nehmen werde, was er bekomme.

Die Literatur hat sich allgemein gegen diese Betrachtungsweise gewendet [39]. Bei der Anwendung von Art. 10 EKG ist von der Entscheidung der Parteien, die den Vertrag zur Verwirklichung eines bestimmten Interesses abgeschlossen haben, auszugehen, und das Gewicht der Folgen des Vertragsbruchs im Verhältnis zur beabsichtigten vollen Erreichung dieses Interesses abzuwägen. Bei dieser Abwägung soll der hypothetische Parteiwille helfen. Es liegt ähnlich wie bei § 139 des deutschen BGB, der für die Auswirkung der Teilnichtigkeit eines Vertrages auf die Geltung des Gesamtvertrages den hypothetischen Parteiwillen entscheiden läßt und damit darauf abstellt, wie die Parteien ihre Interessen in vernünftiger Weise abgewogen und geregelt hätten [40]. Aber die genannte Kritik und die hypothetischen Überlegungen, zu denen Art. 10 in Verbindung mit Art. 13 EKG nötigen, haben dazu geführt, daß man die Regel bei den Bemühungen um die Neugestaltung des Einheitlichen Kaufrechts durch UNCITRAL alsbald beiseite schob und durch eine objektiv formulierte Neufassung zu ersetzen versuchte [41] wenn sich auch durchaus einzelne Stimmen für die Beibehaltung von Art. 10 EKG erhoben [42].

Fussnoten

Vgl. dazu Kegel, Internationales Privatrecht, 4. Aufl. 1977, § 18 I 1c, S. 292f.

Text ↑

Rabel, Gesammelte Aufsätze III S. 594 und: Recht des Warenkaufs I S. 524—528.

Text ↑

Domat, Les lois civiles dans leur ordre naturel. Livre I Titre I Section VI No 11 et 14; Livre I Titre II Section II No 19; Livre I Titre II Section XI No 3; Livre I Titre II Section XII No 13 und dazu Landfermann aaO. (oben Fn. 9) S. 15 ff.

Text ↑

Pothier, Tratte du Contrat de Verne No 476. Vgl. Landfermann aaO. S. 54 f.

Text ↑

Vgl. die sorgfältige Analyse bei Landfermann aaO. S. 54 ff.

Text ↑

Zu Wendungen dieser Art vgl. insbesondere Capitant, De la cause des obligations, 3. Aull. 1927, No 154; Colin-Capitant-J ulliot de la Morandiere, Traite de Droit Civil No 1027; Planiol-Ripert-Esmein, Traité pratique de droit civil français VI (1952) No 426, 430.

Text ↑

Haager Konferenz von 1951, Actes S. 174 ff., 178, 182 ff., 273.

Text ↑

Haager Konferenz von 1964, Documents S. 50.

Text ↑

Riese, RabelsZ 22 (1957) 16 ff., 39 f.

Text ↑

Rabel, Warenkauf I S. 266 und S. 526, 528; kritisch Beinert aaO. S. 124 Anm. 58.

Text ↑

So auch Ussing in der Diskussion, Actes S. 182; ebenso Dölle/Huber EKG Art. 10 Rdnr. 2Iff., 22 am Ende.

Text ↑

Anson/Gaest, Law of Contract, 24. Aufl. 1975, S. 520ff.; Treitel, The Law of Contract, 5. Aufl. 1979 S. 600 ff.; Atiyah, An Introduction to the Law of Contract, 2. Aufl. 1971, S. 123.

Text ↑

Vgl. dazu die eingehenden teilweise nahezu monographischen Ausführungen von Döllc/Haber und Mertens/Rehbinder in den Kommentaren zum EKG, auf die ich ein für alle Mal verweisen möchte.

Text ↑

Vgl. den Bericht des Sonderausschusses DocII S. 50 und das von Riese 22 (1957) S. 40 mitgeteilte Beispiel.

Text ↑

Vgl. den Diskussionsbeitrag von Tunc auf der Haager Konferenz von 1964, Actes I S. 35 und Tune, Kommentar S. 88 f.

Text ↑

RGZ 94, 326; BGH NJW 1971, 798; Soergel-Reimer Schmidt BGB §326 Anm. 23; Palandt-Heinrichs BGB (1981) § 326, 1 1; kritisch Habel, WarcnkaufI S. 393.

Text ↑

Actes 1951, S. 182 ff.

Text ↑

Haager Konferenz von 1964, Doc. II S, 274.

Text ↑

Vgl. dazu Dolle/Haber EKG Art. 10 Rdnr. 31 und aus heutiger Sicht Anson/Guest aaO. (oben Fn. 26) S. 162ff. und Treitel aaO. (oben Fn. 26) S. 162 ff.

Text ↑

Haager Konferenz von 1964, Doc II S. 183.

Text ↑

Vgl. Flume, Das Rechtsgeschäft, 3. Aufl. 1979, 8 16, 4a, b, S. 321 ff., 324; Larenz, Allgemeiner Teil, 4. Aufl. 1977, § 23 II S. 406, 8 29 I 5. 480 f.

Text ↑

Haager Konferenz von 1964, Doc. II S. 118, 180.

Text ↑

Graveson-Cohn-Graveson, The Uniform Law on International Sales Act 1967. A Commentary, 1968, S. 55 ff.

Text ↑

Vgl. oben bei Fn. 32.

Text ↑

Vgl. Dölle-Huber EKG Art. 10 Rdnr. 25; Mertens-Rehbinder, EKG Art. 10 Rdn. 9 und 10; Reinert aaO. (oben Fn. 6) S. 72 f.

Text ↑

A. v. Tuhr, Der Allgemeine Teil des Deutschen Bürgerlichen Rechts II 1, 1914, S. 284.

Text ↑

Vgl. den sog. Genfer Entwurf einer Arbeitsgruppe, vorgelegt am 17. März 1976, Text und Kommentar UNCITRAL Yearbook VII (1976) S. 89ff., Art. 9 S. 101 („fundamental breach“); Michida, Cancellation of Contract, Am. J. Comp. L. 27 (1979) S. 279 ff.

Text ↑

Vgl. die Regierungsstellungnahmen zum Genfer Entwurf UNCITRAL Yearbook VII (1977) S. 109–142 nebst zusammenfassendem Bericht des Generalsekretärs S. 142 ff., 148 f.

Text ↑

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