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Leistungsverweigerungsrechte im UN-Kaufrecht — Teil 4

Verfasser | Christoph Kern

Quelle: M. R. Will ed., Rudolf Meyer zum Abschied: Dialog Deutschland-Schweiz VII, Faculté de droit, Université de Genève. 1999. S. 73–111.

Jahr: 1999.

2. Das allgemeine Zurückbehaltungsrecht

a) Die verschiedenen Situationen

aa) Unproblematische Fälle

Hat sich der Verkäufer zusichern lassen, daß die Ware nicht exportiert wird, weil ihm anderenfalls Vertragsstrafen oder Schadensersatzklagen wegen der Verletzung von Exklusivlieferverträgen drohen [52], so wird niemand die Angemessenheit einer Verweigerung jeder weiteren Leistung bezweifeln, wenn sich der Käufer nach der ersten Teillieferung über die vertragliche Vereinbarung hinweggesetzt hat. Im eingangs genannten Tigerbeispiel muß es dem deutschen Zoo gestattet sein, die Verladung der Tiere auszusetzen, wenn das Gehege mit Altlasten verseucht ist. Bei einer wartungsintensiven Ware kann ein Servicenetz so bedeutsam sein, daß man dem Verkäufer erlauben wird, die Lieferung zu verweigern, solange der zum Service verpflichtete Käufer hierzu nicht in der Lage ist. In derartigen Fällen stellt die Nebenpflichtverletzung nicht selten eine wesentliche Vertragsverletzung im Sinne des Art. 25 dar. Dann könnte der Verkäufer gemäß Art. 64 Abs. 1 lit. a), der Käufer gemäß Art. 49 Abs. 1 lit. a) die Aufhebung des Vertrages erklären. Doch kann eine Vertragsaufhebung den Interessen der betroffenen Partei zuwider laufen, so wenn der Verkäufer im [Seite 95] ersten Beispiel Saisonware verkauft und in der Kürze der Zeit keinen anderen Abnehmer finden wird, wenn der Zoo im Tigerbeispiel keinen weiteren Interessenten hatte, oder wenn der Verkäufer im dritten Beispiel einen Imageverlust wegen unzufriedener Abnehmer befürchten muß. Gewiß stehen der in ihren Interessen verletzten Partei hier Ersatzansprüche zu. Indessen kann mit diesen nicht sofort Druck auf den Vertragspartner ausgeübt werden. Hinzu kommt, daß Feststellung und Bezifferung eines Schadens oft mit großen Schwierigkeiten verbunden sind. Daraus folgt die praktische Notwendigkeit eines vollständigen Zurückbehaltungsrechts. Nach dem ersten Ausgestaltungsmodell wäre dies möglich, da durch die Verweigerung der Leistung kein treuwidriges Mißverhältnis entstünde. Auch mit dem zweiten Modell müßte man angesichts des Gewichts der Vertragsverletzung die vollständige Zurückbehaltung gestatten. Den Bedürfnissen der Praxis würden hier also beide Modelle gleichermaßen gerecht.

bb) Grenzfälle

Wiegt die Nichterfüllung der Nebenpflicht weniger schwer, führen die beiden Ausgestaltungsmodelle wieder zu verschiedenen Ergebnissen. Problematisch ist beispielsweise der folgende Fall: Ein Verkäufer von Modebekleidung hält trotz Zahlung sämtliche Lieferungen mit der Begründung zurück, der Käufer habe in die vereinbarte Werbekampagne bislang einen unwesentlich geringeren als den versprochenen Betrag investiert. Hier erscheint die Reaktion des Verkäufers unverhältnismäßig. Zwar hat er die vereinbarten Werbeausgaben des Käufers bei seiner Preiskalkulation berücksichtigt, und die Steigerung des Bekanntheitsgrades ist nicht im erwarteten Umfang eingetreten. Doch den Käufer belastet die Leistungsverweigerung bei einem geringen Fehlbetrag stärker: Er hat die Ware bereits bezahlt und viel Geld für eine Werbekampagne ausgegeben. Vor allem aber kann er seinen Kunden die angekündigte Kleidung nicht anbieten. Die Folgen reichen von bloßem Imageverlust bis hin zu Ersatzansprüchen. Bei einer geringen Unterschreitung der versprochenen Werbeausgaben muß man daher dem Verkäufer zumindest die vollständige Zurückbehaltung der Leistung versagen. Im Tigerbeispiel würde es ein schlechter Zuschnitt des Freilaufs nicht erlauben, die Versendung aller Tiere zu verweigern. Ebensowenig dürfte ein Großeinkäufer die Bezahlung des Kaufpreises vollständig verweigern, solange der Verkäufer die versprochene Softwareanpassung (EDI-Update) für eine effizientere Lagerüberwachung schuldig geblieben ist.

Gemäß dem ersten Ausgestaltungsmodell muß der vertragstreuen Partei in solchen Fällen die Geltendmachung eines Zurückbehaltungsrechtes versagt werden, da die Verweigerung der gesamten Leistung gegen Treu und Glauben verstieße.[Seite 96] Hingegen könnte sie ihre Gegenleistung komplett zurückhalten, sobald das nicht mehr als treuwidrig anzusehen wäre. Dies wird relevant, wenn man die Beispiele abwandelt. Der Käufer möge die angekündigte Werbekampagne in einem erheblich geringeren Umfang durchgeführt haben, als von den Parteien verabredet. Das Tigergehege sei für die zwölf Tiere deutlich zu klein. Der Verkäufer habe die vereinbarte Software gar nicht zur Verfügung gestellt. Nun dürfte die geschädigte Partei ihre Leistung vollständig zurückhalten, obwohl man im Gegensatz zu den eindeutigen Fällen hier nicht davon sprechen kann, daß der nichterfüllten Nebenpflicht und der zurückgehaltenen Hauptleistung nach dem Vertrag eine gleichrangige Bedeutung zukommt.

Anders wäre die Behandlung nach dem zweiten Modell. Auch wenn eine Zurückhaltung der gesamten Gegenleistung unverhältnismäßig ist, folgt hieraus kein Ausschluß des Zurückbehaltungsrechts. Vielmehr müßte es so angepaßt werden, daß nichterfüllte Pflicht und zurückbehaltene Leistung in einem angemessenen Verhältnis stünden. Der Konfektionsverkäufer dürfte einen kleinen Teil der Ware zurückbehalten, der deutsche Zoo müßte nur sieben Tiere liefern, der Großeinkäufer könnte den Kaufpreis teilweise zurückhalten. Hinsichtlich der Abwandlung der Beispiele würde es allerdings ebenfalls zu einer Anpassung kommen, die dem größeren Ausmaß der Nichterfüllung bzw. der größeren Bedeutung der Nebenpflicht im Vertragsgefüge Rechnung tragen würde. Die vertragstreue Partei dürfte in den Beispielen also jeweils ihre Leistung in größerem Umfang, jedoch nicht vollständig zurückhalten. Damit führt das zweite Ausgestaltungsmodell gegenüber dem ersten im Grenzbereich zur Erweiterung der Rechte der vertragstreuen Partei, da es mangels Unverhältnismäßigkeit nicht zum völligen Ausschluß des Zurückbehaltungsrechts kommt. Auch jenseits dieser Fälle beschränkt das zweite Modell jedoch den Umfang des Zurückbehaltungsrechts.

b) Anzuwendendes Ausgestaltungsmodell

Angesichts der Tatsache, daß die Zurückhaltung sämtlicher eigener Leistungen im Bereich des allgemeinen Zurückbehaltungsrechts nicht selten unverhältnismäßig sein wird, stellt sich die Frage, ob wenigstens hier eine Ausgestaltung im Sinne des zweiten Modells geboten ist.

Gewiß ließe sich so die Versagung des allgemeinen Zurückbehaltungsrechtes [Seite 97] vermeiden, die nach dem ersten Modell vorkommt. Indessen kann dies nicht das einzige Kriterium sein; die Lösung muß sich insgesamt als richtig erweisen. Daher ist auch hier das zweite Modell der Prüfung ausgesetzt, ob geeignete Kriterien für die flexible Ausgestaltung des allgemeinen Zurückbehaltungsrechts zu finden sind. In der Literatur wird vorgeschlagen, eine vollständige Zurückhaltung der Ware oder des Kaufpreises nur zuzulassen, wenn die Pflichtverletzung einen wesentlichen Vertragsbruch darstellt. Andernfalls soll der Käufer den Kaufpreis in der Höhe zurückhalten dürfen, in der ihm wegen der Pflichtverletzung ein Schadensersatzanspruch oder ein Minderungsrecht zusteht. Der Verkäufer könne bei teilbarer Leistung die Lieferung der Ware in einem Umfang verweigern, der dem Ersatzanspruch wertmäßig entspreche [53]. Das von diesen Autoren vorgeschlagene uneingeschränkte Zurückbehaltungsrecht bei wesentlichen Vertragsverletzungen betrifft die oben behandelten unproblematischen Fälle und deckt sich mit der Lösung der ersten Theorie. Gerade hinsichtlich der „pathologischen" Fälle, in denen keine wesentliche Pflichtverletzung vorliegt, kann dieser Ansatz jedoch kaum akzeptiert werden. Verständlich ist, daß man im Rahmen des allgemeinen Zurückbehaltungsrechts nicht versucht, den Umfang der zulässigen Leistungsverweigerung an den Gegenwert der nicht erfüllten Pflicht zu binden. Eine solche Bindung ließ sich zwar bezüglich der Hauptpflichten diskutieren. Hier geht es dagegen um Nebenpflichten. Deren Erfüllung als solche hat nicht stets einen Wert, der sich mittels objektiver Kriterien, wie dem vertraglichen Austauschverhältnis, feststellen läßt. Daher kann man nur darauf ausweichen, den Umfang des Zurückbehaltungsrechts an einen Schadensersatzanspruch zu koppeln [54].

Ein solches Vorgehen ist aber fragwürdig. Zunächst wird sich bei der Nichterfüllung von Nebenpflichten ein Vermögensschaden zuweilen nicht mit Sicherheit feststellen lassen. Dann hätte die vertragstreue Partei gar kein Zurückbehaltungsrecht. Ansonsten käme die gesamte Problematik der Ermittlung und der Ersatzfähigkeit des Schadens ins Spiel. Gemäß Art 74 S. 2 müßte die vertragstreue Partei beispielsweise entscheiden, ob und inwieweit ein ihr entstandener Schaden voraussehbar war. Hält sie zu viel zurück, macht sie sich ihrerseits ersatzpflichtig. Jenes Risiko wäre nur durch gerichtliche Feststellung zu vermeiden. Bei einer selbständig einklagbaren Nebenpflicht könnte die vertragstreue Partei auch direkt Leistungsklage erheben. Die Inanspruchnahme der Gerichte soll aber durch ein Zurückbehaltungsrecht gerade vermieden werden. Zudem dürfte die vertragstreue Partei infolge der Koppelung oft nur einen sehr geringen Teil ihrer Leistung verweigern. Damit ließe sich das Zurückbehaltungsrecht kaum noch als Druckmittel einsetzen. Weiter versagt der Vorschlag, wenn der [Seite 98] Käufer bei einer nicht teilbaren Leistung des Verkäufers eine Nebenpflicht nicht erfüllt: Eine Anpassung der Zurückhaltung des Verkäufers ist hier praktisch unmöglich. Der Verkäufer hätte daher nur ein Zurückbehaltungsrecht, wenn die Pflichtverletzung einen wesentlichen Vertragsbruch darstellte. Dies ist im Bereich des allgemeinen Zurückbehaltungsrechts jedoch eher die Ausnahme als die Regel. Demgegenüber dürfte der vertragstreue Verkäufer einer nicht teilbaren Leistung nach dem ersten Modell bis zur Grenze der Unangemessenheit seine gesamte Leistung verweigern. — Schließlich führte die vorgeschlagene Anbindung des Zurückbehaltungsrechts an Schadensersatzansprüche im Ergebnis zu einer erweiterten Minderungsmöglichkeit bzw. einer konventionsinternen Aufrechnung. Ein so tiefgreifender Einbruch in das System der Rechtsbehelfe durch das nicht ausdrücklich geregelte allgemeine Zurückbehaltungsrecht erscheint dogmatisch unhaltbar.

Nach alledem kann der Literaturmeinung schwerlich gefolgt werden. Damit ist das zweite Ausgestaltungsmodell im Bereich des allgemeinen Zurückbehaltungsrechts ebenfalls zu verwerfen. Trotz seiner Strenge und der im Einzelfall schwierigen Abgrenzung muß man auch bei der Nichterfüllung von Nebenpflichten das erste Modell heranziehen. Es ermöglicht klare Ergebnisse und wird dem Grundgedanken des Leistungsverweigerungsrechts als Druckmittel gerecht. Sein Nachteil, der Ausschluß des Zurückbehaltungsrechts in Extremfällen, wiegt so schwer nicht, bleiben der vertragstreuen Partei doch stets alle anderen Rechtsbehelfe wegen einer Vertragsverletzung erhalten.

Ergebnis

Neben den ausdrücklichen Leistungsverweigerungsrechten, die insbesondere die Nichterfüllung von Hauptpflichten betreffen, läßt sich aus den Grundsätzen des UN-Kaufrechts ein allgemeines Zurückbehaltungsrecht für Nebenpflichten ableiten. Somit muß nicht auf nationales Recht zurückgegriffen werden. Alle Zurückbehaltungsrechte gestatten der vertragstreuen Partei grundsätzlich die vollständige Verweigerung der Leistung. Grenze ist das Prinzip der Wahrung des guten Glaubens, das im Einzelfall die Zurückbehaltung verbieten kann.[Seite 99]

Fussnoten

Vgl. Cour d Appel de Grenoble, Urteil vom 22.2.1995, Kernaussage in D.1995.IR.100, anschaulicher z.B. bei Witz/Wolter, RIW 1995, 810 (811); die wettbewerbsrechtliche Zulässigkeit sei unterstellt. Das Beispiel ist insofern kompliziert, als es sich bei der nicht erfüllten Pflicht um eine Unterlassungspflicht handelt. In solchen Fällen muß sich das allgemeine Zurückbehaltungsrecht m.E. auf Sekundäransprüche (Schadensersatz, Leistung von Sicherheiten) erstrecken.

Text ↑

Heuzé (Fn 3), Nr. 362 bei Fn 289; Karollus (Fn 26), S. 84 f; Schlechtriem, Internationales UN-Kaufrecht (Fn 3), Rn 206 und 251.

Text ↑

Die Anbindung an ein Minderungsrecht scheidet aus, weil die Rechtsbehelfe für Sachmängel abschließend sind, so daß hier ein allgemeines Zurückbehaltungsrecht nicht in Frage kommt (s.o).

Text ↑

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